Die Büchse der Pandora: Geschichte des Ersten Weltkriegs; Jörn Leonhard; C.H. Beck Verlag

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Der Erste Weltkrieg – La Grande Guerre – sprengte erstmal jegliche Vorstellung vom Schlechten!

Zum Hundertsten Jahrestag des Ausbruchs des Ersten Weltkrieges – fast alle Deutschen, die sich überhaupt noch an das vier Jahre andauernde Gemetzel, das eigentlich nur als Abschlachten von Aber-Millionen Soldaten und Zivilpersonen, denken bei dem Begriff „Erster Weltkrieg“ spontan wohl an den jahrelangen Stellungskrieg vor und um Verdun. Eventuell auch noch an das sinnlose Gemetzel an der sogenannten Ost-Front, weit im heutigen Polen, der heutigen Ukraine, Russland etc. Dass an dem grauenhaften Krieg Millionen Menschen aus Frankreich, England, Belgien, Deutschland, Österreich-Ungarn, Italien, Serbien, Kroatien, Türkei, Griechenland, Russland, Indien, Australien, Kanada, USA, Polen, Ukraine, Nigeria, Somalia, Rhodesien, Sudan, Marokko, Kongo, Aserbeidschan, Irland, Südafrika, dem heutigen Saudi-Arabien, Eritrea, Portugal, Tschechei, Litauen, Weissrussland, Ukraine, Georgien, Jemen, Jordanien, dem heutigen Montenegro, Serbien, Kroatien, Ägypten, Libyen, Japan,  eben Menschen aus aller Welt und in aller Welt ums Leben kamen, wird dabei häufig übersehen.

Ebenso wird meist übersehen, dass sich die militärischen Auseinandersetzungen nicht auf Europa, vornehmlich Belgien und Nord-Frankreich beschränkten. Sondern dass sich die Militärmächte Österreich-Ungarns und Italiens im ‚Alpenkrieg‘ zu Hunderttausenden mit allen erdenklichen Waffen, die damals zur Verfügung standen (einschliesslich des Einsatzes von Giftgas), gegenseitig umbrachten, wird zu oft vergessen. Österreich-Ungarn mit Unterstützung der Deutschen Armee, die Kräfte von anderen Fronten abzogen, um das Militär von Österreich-Ungarn zu verstärken, Italien erhielt derartige Unterstützung von Frankreich und England. Das Alles wegen ein paar 100 Metern, manchmal auch ein paar Kilometern Frontverschiebung.

Teilweise bekämpften sich Angehörige der gleichen Ethnie, weil sie beziehungsweise die Regionen, in der sie lebten, zufälligerweise jeweils einer anderen Macht zugeschlagen wurden.

Die kriegerischen Auseinandersetzungen in den afrikanischen Kolonien der in Europa Krieg führenden Grossmächten werden vom Autoren ebenso behandelt wie der Krieg auf den Weltmeeren, der von der Deutschen Marine geführte U-Boot-Krieg gegen England und die USA.

Es geht Jörn Leonhard aber nicht ausschliesslich um die rein militärischen Aspekte des Ersten Weltkrieges. Ebenso verständlich beschreibt er die Stimmung in der Bevölkerung der Heimatländer. Die finanziellen Lasten, die der Zivilbevölkerung aufgebürdet wurden. Die Versorgungs- und Ernährungsengpässe, verursacht durch die Handelsblockaden. Die Entwicklung der Revolutionen in Russland. Den nahtlosen Übergang vom Krieg der Nationen an der Ostfront in einen Bürgerkrieg in Russland. Das Entstehen neuer Staaten durch Geheimabsprachen zwischen den kooperierenden Mächten. Die erfolgreiche Erniedrigung des Deutschen Kaiserreiches als angeblich einzig Schuldigen am Ausbruch des Krieges. Und im Zusammenhang damit die die in Deutschland real gewordene öffentliche Meinung und Stimmung der ‚Dolchstosslegende‘. Die dann im Dritten Reich unter den Nazis weidlich ausgeschlachtet wurde. Das ungerechtfertigt überhöhte Ansehen von Hindenburg und Ludendorff.

Es geht um das Bild der Kriegsgewinnler wie beispielsweise Krupp mit dem ‚Paris-Geschütz‘, von denen drei existierten. Konstruktionsbedingt flogen die aus dem 37 Meter langen Rohr abgefeuerten Granaten bis in eine Höhe von etwa 40 Kilometer. Damit erreichten sie eine für die damalige Zeit exorbitante Reichweite von 130 Kilometern. Zwei dieser Geschütze feuerten zwischen März und August 1918 800 dieser Geschosse direkt auf Paris.

Es geht um Lawrence von Arabien, um Lenin, um die leider illusionistischen Vorstellungen des damals amtierenden US-Präsidenten Woodrow Wilson für die Zeit nach dem Krieg.

Es geht um die Rolle der Frauen in der jeweiligen Heimat, deren Männer ‚auf dem Feld geblieben‘ sind. Zum grossen Teil zerstückelt, zerrissen von Granaten, von den Kugeln aus Maschinengewehren durchlöchert, im Giftgas qualvoll erstickt.

Wer weiss schon, dass das deutsche Militär mit Zeppelinen und Hochdecker-Flugzeugen England bombardiert hat? Auf den Feldpostkarten, die nach Hause geschickt wurden, waren keine Zehntausende von Toten zu sehen, sondern gutgelaunte, gut genährte Herren mittleren Alters, die allem Anschein nach einen Abenteuerurlaub mit Kameraden genossen. Wer weiss schon, dass Italien die Absicht hatte,, dem Habsburger Reich Istrien und die östliche Adriaküste sowie dem Osmanischen Reich die Inseln in der südlichen Ägäis, also Rhodos, Kos, Kalymnos, Symi, Chalki und weitere abzunehmen? Wer weiss schon, dass Japan darauf aus war, die deutschen Kolonien in Ost-Asien übernehmen zu können?

Es geht um die Behandlung der Kriegsverletzten, deren Traumata kurzerhand als Drückebergerei oder ‚normaler Irrsinn‘ eingestuft wurde. Um deren Kampf gegen die Behörden wegen einer Unterstützung, so sie den Krieg nur mit einem Bein, nur mit einem Arm oder einem halben Unterkiefer überlebten.

Die finanzielle und wirtschaftliche Verflechtung zwischen Gross-Britannien , Frankreich sowie weiteren Nationen einerseits und den USA andererseits bereits vor deren Kriegserklärungen im April 1917 an Deutschland und im Dezember 1917 an Österreich-Ungarn kommt ebenso zur Sprache wie Streiks an der ‚Heimatfront‘ wie die Behandlung der aus den afrikanischen und asiatischen Kolonien stammenden Soldaten. Die sukzessive immer geringer werdende Wertschätzung der Mitbürger jüdischen Glaubens in allen Nationen und so weiter. Das Verwandschaftsgeflecht des Hochadels, der Kaiser und Könige, sonstiger adliger Militärführer, die Tatsache, dass Soldaten, die nach dem Waffenstillstand in ‚ihr Land‘ zurückkehren wollten, dieses nicht mehr fanden. Weil es mittlerweile nicht mehr existierte, sondern durch ein neues am Verhandlungstisch geschaffenes Staatengebilde ersetzt wurde…
Der Autor lässt keinen Aspekt aus.

Schon ein Überblick, welche Nation wann welcher den Krieg erklärt hat, lässt kalte Schauer über den Rücken laufen:

1914
28. Juli Österreich-Ungarn an Serbien
1. August Deutschland an Russland
3. August Deutschland an Frankreich
4. August Großbritannien an Deutschland; Deutschland an Belgien
5. August Montenegro an Österreich-Ungarn
6. August Österreich-Ungarn an Russland; Serbien an Deutschland
9. August Montenegro an Deutschland; Österreich-Ungarn an Montenegro
12. August Großbritannien an Österreich-Ungarn
13. August Frankreich an Österreich-Ungarn
22. August Österreich-Ungarn an Belgien
23. August Japan an Deutschland
25. August Japan an Österreich-Ungarn
1. November Russland an die Türkei
2. November Serbien an die Türkei
5. November Großbritannien an die Türkei; Frankreich an die Türkei
1915
23. Mai Italien an Österreich-Ungarn
3. Juni San Marino an Österreich-Ungarn
21. August Italien an die Türkei
14. Oktober Bulgarien an Serbien
15. Oktober Großbritannien an Bulgarien; Montenegro an Bulgarien
16. Oktober Frankreich an Bulgarien; Serbien an Bulgarien
19. Oktober Italien an Bulgarien; Russland an Bulgarien
1916
9. März Deutschland an Portugal
15. März Österreich-Ungarn an Portugal
27. August Rumänien an Österreich-Ungarn; Italien an Deutschland
28. August Deutschland an Rumänien
30. August Türkei an Rumänien
1. September Bulgarien an Rumänien
1917
6. April USA an Deutschland
7. April Kuba an Deutschland;

Panama an Deutschland

2. Juli Griechenland an Deutschland, Österreich-Ungarn, Türkei und Bulgarien
22. Juli Siam an Deutschland und Österreich-Ungarn
4. August Liberia an Deutschland
14. August China an Deutschland und Österreich-Ungarn
26. Oktober Brasilien an Deutschland
7. Dezember USA an Österreich-Ungarn
10. Dezember Panama an Österreich-Ungarn
16. Dezember Kuba an Österreich-Ungarn
1918
23. April Guatemala an Deutschland
8. Mai Nicaragua an Deutschland und Österreich-Ungarn
23. Mai Costa Rica an Deutschland
12. Juli Haiti an Deutschland
19. Juli Honduras an Deutschland

(Quelle: Hans Dollinger (Hg.): Der Erste Weltkrieg in Bildern und Dokumenten, Wiesbaden 1965, entnommen der Internetseite der Austria Presse Agentur)

 

Der Text ist zwar mit zahlreichen Fremdworten durchsetzt. Was aber keine sonderliche Mühe macht, da sich der Sinn häufig aus dem laufenden Text ergibt. Ein ausführliches Stichwortregister (fast schon zu ausführlich, zu ‚Paris‘ beispielsweise existieren 33 Seitenverweise), ein ebenso umfangreiches Personenverzeichnis, einige Diagramme mit Verlustzahlen während der Kriegsjahre der einzelnen grossen Nationen, deren durch den Krieg verursachten finanzielles Aufkommen, 61 zeitgenössische Schwarz/Weiss-Fotos und einige Landkarten mit den Frontverläufen, Frontbewegungen verdeutlichen ansatzweise das Grauen des Ersten Weltkrieges, des „Grande Guerre“. Dazu kommen teilweise Zitate aus aufgefundenen Briefen von Soldaten an der Front.

Das Buch mag einigen wissenschaftlichen Ansprüchen nicht genügen. Obwohl alleine das Quellen- und Literaturverzeichnis 63 Seiten in kleiner Schrift umfasst. Von den kapitelweise aufgeführten Endnoten ganz zu schweigen.

Die Folgen des Ersten Weltkrieges, die teilweise bis heute ihre katastrophalen Auswirkungen haben, werden von Jörn Leonhard ebenso angesprochen. Man denke nur an den sogenannten Nahen Osten.

Das Bild auf dem Umschlag spricht Bände: die ersten kämpfenden Truppen gehörten tatsächlich der Kavallerie und Infanterie an. Teilweise noch bewaffnet mit Säbeln und Lanzen. Sie wurden von dem Maschinenkrieg, dem Krieg der Technik überrascht und ums Leben gebracht.

Es ist mehr als sehr wünschenswert, dass die rechtspopulistischen Politiker, die in den Ost-Europäischen Ländern, besonders in Ungarn und seit einiger Zeit auch in Italien an entscheidenden Schaltstellen der Regierungen sitzen, das Buch als Pflicht- oder Zwangslektüre auf oktroyiert bekommen. Danach versuchen sie hoffentlich nicht mehr, Europa zu unterminieren.

Weswegen der Erste Weltkrieg völlig zu Recht als „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“ bezeichnet wird – nach der Lektüre weiss man es in aller Deutlichkeit!

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