Bedenkenswert, nicht bedenklich. Der Ansatz, Hitlers Gedankenwelt zu verstehen.
Auch wer schon zahlreiche Biographien über Hitler gelesen hat, beispielsweise Ian Kershaws herausragende zwei Bände über Hitler, Joachim C. Fest’s Buch aus dem Jahr 1973, Sebastian Haffners „Anmerkungen zu Hitler“ von 1978 oder weniger bekannte Literatur wie das Buch von Eugene Davidson „Wie war Hitler möglich“ (1982), „Was niemand wissen wollte“ von Walter Laqueur 1984, „Wer war wer im Dritten Reich“ von Robert Wistrich, 1990 erschienen, wird in diesem erst 2019 erschienenen Buch von Brendan Simms neue Erkenntnisse gewinnen.
Der 1967 in Irland geborene Historiker ist Professor für die Geschichte der internationalen Beziehungen am Centre of International Studies der Universität Cambridge. Er beschreibt in seinem insgesamt 1.050 Seiten umfassenden Buch nicht nur Hitlers Leben und Werdegang, vom Sohn eines Zollbeamten im niederösterreichischen Waldviertel an der Grenze zu Böhmen über den erfolglosen ‚Künstler‘ in Wien und München, seine Militärzeit im Ersten Weltkrieg als Meldegänger an der Westfront in Frankreich und Flandern einschliesslich seiner Verwundungen und Lazarettaufenthalte. Die von ihm nach dem bedenkenlos übernommene und von ihm sein Leben lang vertretene und aufs Äußerste verfechtete ‚Dolchstoßlegende‘. Mit ein Grund für seine totale Weigerung, gegenüber den Alliierten, egal ob an der West- oder an der Ost-Front, ob in Nordafrika, auf dem Balkan oder in Skandinavien eine Kapitulation zu akzeptieren.
Brendan Simms These, dass es Hitler nach seiner Machtergreifung vornehmlich darum ging, mit den insgeheim bewunderten Briten und Amerikaner zumindest gleich zu ziehen und durch seine von ihm vom Zaun gebrochenen Feldzügen aus dem Deutschen Reich ein diesen ebenbürtiges Weltreich zu schaffen, das ist im zweiten Teil des Buches ein Schwerpunkt in Simms Werk.
Den Weg zur Macht, von der bayrischen Splitterpartei über Thüringen, Sachsen und so weiter Schritt für Schritt zur Einheitspartei NSDAP im Deutschen Reich beschreibt der Autor natürlich ausführlich. Einschliesslich der öffentlich verlautbarten Zielsetzungen der NSDAP.
Der Überfall auf Polen im Jahr 1939, den Hitler befohlen hatte und dessen ‚Notwendigkeit‘ der deutschen Bevölkerung gegenüber mit Lügen begründet wurde, war bekanntermaßen der Auslöser des Zweiten Weltkrieges. Wobei sich das Deutsche Reich und Polen trotz aller Zwistigkeiten zwischen 1918 und 1938 durchaus angenähert hatten und der Überfall auf Polen umso überraschender kam. Auch das Verhältnis zwischen dem Deutschen Reich und der Sowjetunion war nicht durch permanente Feindseligkeit geprägt.
Im Gegenteil, die Sowjetunion lieferte Getreide, Metallerze, Öl und weitere wichtige Rohstoffe ins Deutsche Reich.
Die vermutlichen Ursprünge der ‚Rassenpolitik‘ Hitlers analysiert Brendon Simms ebenso wie die von Hitler immer wieder in Gesprächen geäußerte Bewunderung der Briten: im Ersten Weltkrieg hatte er erlebt, wie die US-amerikanischen und britischen Soldaten gegen die deutsche Wehrmacht gekämpft haben. Und ein großer Teil der amerikanischen und britischen Soldaten hatten Vorfahren, die aus Deutschland ausgewandert waren: „Hintergrund dieser Darstellung ist die Tatsache, dass sich zwischen 1820 und 1930 rund 5,9 Millionen Deutsche in den Vereinigten Staaten niederließen. Im Zeitraum von 1860 bis 1890 bildeten sie die größte Einwanderergruppe. Um 1900 war rund ein Zehntel der US-Amerikaner deutscher Herkunft, unter ihnen ein gewisser Friedrich Drumpff, der sich auf Ellis Island als Frederick Trump registrieren ließ – Donald Trumps Großvater, der 1885 in Amerika eintraf.“ (Zitat Seite 207).
Ein weiterer Grund für Hitlers Weltreich-Phantasien und dem damit verbundenen permanenten Ruf nach ‚Lebensraum für das deutsche Volk‘ war die Existenz des damaligen Britischen Weltreiches mit Indien, den Kolonien in Afrika, im so genannten Nahen Osten, in Asien (Stichwort Boxer-Aufstand oder auch Hong Kong), in Nord-Amerika (Kanada9, Australien etc. Wobei das Britische Empire alles andere als zimperlich mit der dortigen Bevölkerung umging.
Die Siedler in den USA hatten unermessliche Weiten in Richtung Westen erobert und auf dem Weg nach Westen mittels ihrer überlegenen Waffentechnik die ursprünglich dort lebenden indigenen Stämme (‚Indianer‘) Großteils vernichtet.
Über das perfekt inszenierte Schauspiel der Olympischen Spiele 1936 mit dem zu diesem Anlass von den Nazis erfundenen olympischen Fackellauf in Berlin zum Anschluss Österreichs, der Überfall aus Polen, die Besetzung Skandinaviens, das ‚Unternehmen Barbarossa‘, sprich der Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion, die Gründe für die Unterstützung Mussolinis in Italien, auf dem Balkan, der Einmarsch deutscher Truppen in Griechenland, die militärischen Niederlagen an allen Fronten und Hitlers Reaktionen darauf – Brendan Simms beschreibt all dies und geht allem so weit als möglich auf den Grund.
Bis hin zu den letzten Tagen und Stunden im Bunker unter der Reichskanzlei.
Bis hin zum Genozid an russischen Kriegsgefangenen und vor allem dem mit deutscher Gründlichkeit organisierten unermesslichen Massenmord an der Bevölkerung jüdischen Glaubens aus allen unter Nazi-Herrschaft leidenden Ländern.
Der Autor beschreibt auch die Rollen der obersten Nazi-Führer (Göhring, Goebbels, Himmler, Bormann, Speer, Frank und viele Weitere), deren Machtkämpfe hinter den Kulissen, das Privatleben Hitlers mit der Liaison zu Geli Raubal, der Tochter seiner Halbschwester Angela, also seiner Nichte, zu Eva Braun. Die Gründe, weswegen Hitler nach dem Ende des seiner Ansicht nach nur zu gewinnenden Krieges auf jeden Fall den Volkswagen etablieren wollte – als Gegenstück zu dem US-amerikanischen Massenbewegungsmittel Auto, Stichwort ‚Ford‘.
Wer weiss schon, dass Hitler in seiner Bewunderung der USA Hamburg zu einer Stadt umgestalten wollte, die New York mitsamt seinem 1931 eröffneten Empire State Building bei Weitem übertreffen sollte?
Das Buch liest sich dank des Schreibstils von Brendan Simms sehr gut. Es bietet eine Fülle neuer Informationen, sehr interessante, wissenswerte Aspekte des ‚1000-jährigen Reiches‘. Es lässt weder die Einstellung der Zivilbevölkerung noch die katastrophalen Erlebnisse der Soldaten aus allen Ländern oder die Machtstrukturen des Nazi-Reiches aus.
Nicht nur dem, der jetzt diese verhängnisvollen Jahre in der Form anspricht „Aber, liebe Freunde, Hitler und die Nazis sind nur ein Vogelschiss in über 1000 Jahren erfolgreicher deutscher Geschichte“, auch alle anderen, ganz besonders die, die derartigen Gedankengängen folgen, sollten, besser müssten dieses Buch lesen.
Wer die Feststellungen Brendan Simms bestreiten will: selbstverständlich belegt Brendan Simms alles, was er schreibt. Auf 82 kleingedruckten Seiten mit Anmerkungen und Fundstellen der zahlreich aufgeführten Zitate aus Gesprächsprotokollen, Tagebuchaufzeichnungen etc.
Die Bibliographie umfasst weitere 96 Seiten. Es ist also alles nach- und überprüfbar!