Achterbahn: Europa 1950 bis heute; Ian Kershaw; dva | Achterbahn: Europa 1950 bis heute; Ian Kershaw; dva

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Wer Europa verstehen will, muss dieses Buch lesen!

Unter ‚Europa‘ ist nicht nur die EU mit ihren (Regulierungs-) Behörden zu verstehen, sondern ‚Europa‘ als Kontinent, in dem durch die katastrophalen Ereignisse des Ersten sowie des Zweiten Weltkrieges ein Kontinent geschaffen werden konnte, auf dem zahlreiche Nationen mit ihrer unterschiedlichen Historie, mit ihren vielen Sprachen, mit ihren verschiedenen Staatsvölkern friedlich zusammen leben. Sei dem Ende des Zweiten Weltkrieges und bisher auf jeden Fall.

In einem gut zu lesenden, sehr verständlichen Sprachstil zeichnet Ian Kershaw die Entwicklungsgeschichte mit ihren Fortschritten und auch Rückschlägen von den Anfängen mit der Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl, kurz Montanunion aus dem Jahr 1951/1952 über die EWG zur EU. Mitsamt aller ‚Quertreibereien‘. Bei denen sich die Briten schon seit Jahrzehnten mit ganz besonderen Meriten auszeichnen.

Es geht aber ebenso um die Diktaturen in Süd-Europa, Portugal, Spanien, Griechenland, Rumänien, Bulgarien etc., Es geht um das Auseinanderbrechen der ehemaligen Sowjetunion, die Rolle der verschiedenen sowjetischen Politiker von Stalin über Chruschtschow, Breschnew über Gorbatschow, Jelzin bis zu Putin. Aber ebenso über die Rolle der US-amerikanischen Politiker bei der Umsetzung der Interessen der USA.

Dass bei alldem auch Frankreich, die besondere Situation der skandinavischen Länder oder der DDR nicht zu kurz kommen, versteht sich von selbst. Auch das andauernde politische ‚Chaos‘ in Italien, der Zerfall von Titos Jugoslawien mit dem jahrelangen Balkan-Krieg faktisch vor der Haustüre wird ausführlich erklärt.

Die Krise, besser gesagt der immer noch herrschende Krieg in den Ost-Gebieten der Ukraine, die Rolle der Türkei, die Auswirkungen des weltweiten islamistischen Terrors (und dessen Ursachen, an denen vornehmlich die USA und deren gegründeten  ‚Koalition der Willigen‘ massgeblich beteiligt sind, wird nachvollziehbar erklärt.

Zum Schreibstil des Autors nur ein Zitat von Seite 712. Es geht um das Abkommen zwischen der EU und der Türkei, mit dem der Zustrom von Heimatvertriebenen, also Flüchtlingen aus Syrien, Afghanistan und weiteren Ländern über die Mittelmeer-Route Türkei – Griechische Inseln zu unterbinden. „Der Vereinbarung haftete mehr als nur ein Hauch von Heuchelei an, erleichterte er den Druck auf Europa doch dadurch, dass ein Land bestochen wurde, das in puncto Menschenrechte und Rechtsschutz weit von den in der EU geltenden Standards entfernt war.

Weiter auf der Folgeseite: „Ein Preis, den die EU für das Abkommen mit der Türkei zu zahlen hatte, war die ungesunde Abhängigkeit von einem Land, das Dschihadisten in Syrien unterstützt hatte, bei Menschenrechten und Rechtsstaatlichkeit eine zweifelhafte Bilanz aufwies – wie die Massenverhaftungen von Zehntausenden Menschen nach dem Putschversuch von 2016 belegten – und sowohl immer autoritärer als auch immer »islamischer« wurde.

 

Stichwort ‚Nachvollziehbarkeit‘: auch als regelmässiger Zuschauer der Nachrichtensendungen wie Tagesschau, Tagesthemen, ZDF heute und wie sie alle heissen, als Leser einiger überregionaler Tageszeitungen fällt es zeitweise schwer, die (Hinter-) Gründe für viele Konflikte in Europa (Balkankrieg, Ukraine, Krim, um nur ein paar zu nennen) oder das Erstarken der AfD vor allem in Ost-Deutschland, den starken Trend nach politisch rechts in Ungarn, in Polen, in Italien etc. zu verstehen.

Wer die Aussagen, die Feststellungen von Ian Kershaw überprüfen will, sollte sich keinen Zwang antun. Die Ausgewählte Bibliographie umfasst nahezu 24 in kleinerer Schrift gesetzte Seiten.

 

Nach der Lektüre dieses Werkes blickt man deutlich klarer durch die europäische Gemengelage.

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